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Um den Augen der Bewohner des Landes nicht mehr ausgesetzt zu sein, begann der Kurator, abends und nachts zu wandern und tagsüber zu schlafen. So wurde er ruhiger, und wenn er sich immer noch dümmer fühlte als gewohnt, dann zumindest nicht mehr so dumm wie alle anderen hier. Etwas zumindest, dachte er im Morgengrauen des fünften Tages, als er sich in den Schlaf wühlte.
Im Mondschein wanderte er über sanft begraste Hügel, an den Rändern feuchter Wälder entlang und über Felder, die gerade noch monokulturellen Mais und Raps getragen hatten. Nach einigen Nächten der Wanderung wurden die Hügel kahler, die Felder wurden von Wiesen abgelöst und die Mischwälder des Südostens von Kiefernhainen.
So fand sich der zweite Kurator eines Nachts in der Heidelandschaft der Mitte des Landes und in Gesellschaft schwarzweiß gescheckter Rinder wieder. Kaum hob sich das Vieh von der Heide und den Birken, die den Rand des Feldes säumten, ab; es schob sich als massive, langsame Form vor und hinter dem Kurator hin und her. Ab und zu stieß ihn eine Kuh an und er fuhr zurück, atmete schwer, beruhigte sich nur langsam. Die Kühe blieben gleichgültig.
Alles war in das gleiche blauschwarze Licht getaucht, Kühe, Feld, Birken, der restindustrielle Horizont mit seinen Schornsteinen und Kleinstädten; dazwischen, so dachte der Kurator, bestimmt noch mehr Felder, noch mehr Bäume, Kühe, wahrscheinlich Schafe, Max Liebermann-Motive, aber mit Autobahnen.
Groß und faul schien der Mond, groß und faul waren die Kühe, die ihn desinteressiert umstanden, ungerührt von der Anwesenheit des Kurators und der eigenen Schlaflosigkeit.
Ihre Ruhe machte den Kurator nervös, er hatte auf seiner bisherigen Reise wohl doch nicht genug Menschen gesehen, nicht genug Input gehabt, dachte er. Vielleicht ist dieser Schlafrhythmus doch nicht so gut. Ihn beunruhigten das Schweigen und die Trägheit der Kühe, die sinnlos und lahm vor und zurück trabten, stehenblieben, zwei Schritte taten, wieder zum Stehen kamen.
Er konnte sich nicht zum Aufbruch entschließen.
So stand der zweite Kurator eine Weile und beobachtete irritiert die Kühe, ließ sich von ihnen anrempeln, hörte ihrem Schnaufen und dem Geräusch ihrer Hufe zu, die im weichen Heideboden einsanken und sich mit einem leisen Schmatzer wieder aus ihm lösten. Langsam, sehr langsam ließ sein Ärger nach und er begann, den Bewegungen der Kühe aufmerksamer zu folgen, mit den Augen nur, er stand weiter steif in ihrer Mitte, seine Schuhe waren sicher schon komplett durchnässt, dachte er, aber er spürte seine Füße ohnehin nicht. Sein Atem glich sich dem der Kühe an. Als er den nächsten Stoß von der Seite spürte, versuchte er nicht mehr hektisch auszuweichen. Leise begann der Kurator zu summen, eine unbestimmte Melodie, brach ab, setzte wieder an. Nach einigen Minuten seines vagen, leisen Gesangs hörte er hinter sich eine zweite Stimme, dann weiter vor sich eine dritte, vierte, ein zögerliches, unmelodisches Summen, ein leises Einstimmen der Kühe.
Monotone Alt- und Basstöne hörte der Kurator, während die Kühe weiter bedächtig und unkoordiniert um ihn herumliefen, stehenblieben, den Kopf in Richtung der Birken hoben, ihn senkten, grasten und schließlich kauend aus ihrem Gesang zu sprechen begannen – nicht zum Kurator, auch nicht zueinander, jede für sich unisono:
Wir sind die Kühe.
Wir haben nichts.
Wir wollen nichts.
Wir glauben an nichts.
Wir verzichten auf nichts.
Es verlangt uns nach nichts.
Wir nehmen euch nichts.
Es gibt für uns nichts.
Bis ans Ende der Welt,
Bis ans Ende der Welt
Wird nichts von uns abgeholt,
Nichts ist bestellt.
Wir sind die Kühe,
Wir brauchen euch nicht.
Wir wollen euch nicht.
Wir sehen euch nicht.
Wenn wir etwas sagen,
Erklären wir nichts.
Wir wissen von nichts.
Wir wissen von nichts.
Bis ans Ende vom Lied,
Bis ans Ende vom Spiel
Ist alles zu wenig,
Ist alles zu viel.
Wir sind die Kühe.
Wir fragen nicht.
Wir antworten nicht.
Wir antworten nicht.
Den nächsten Tag schlief der Zweite Kurator nicht. Er setzte seine Reise bei Licht fort, bog aber vom Weg ab, sobald er in der Ferne eine Nordic-Walkerin oder einen Traktor sah. So vermied er
jede Begegnung mit den Bewohnern des Landes, die wie er waren. Die Landstriche, die er durchquerte, blieben eintönig. Was war die Mitte des Landes anderes als der kleinste gemeinsame Nenner seiner einzelnen Provinzen, eine geographische Charakterlosigkeit, die bei Tag genauso aussageschwach war wie bei Nacht?
Nach einigen weiteren Tagen der Wanderung trat der Kurator aus einem Kiefernhain heraus und stutzte. Die gewohnte Landschaft war verschwunden, der sandige Waldboden ging in einen Strand über, den Strand der See bei Probstzella.
Ein Kahn stieß ans Ufer.
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