Kurzes Spiel für sechs Figuren:
MORONI
DAS GESPENST DER ARBEIT
ZWEI MÄNNER, DIE VIELLEICHT KÜNSTLER SIND
DIE ERBIN
ALFRED SEIDL
Der Raum der Bühne ist breit und tief, sein Boden ist grau und schwarz gesprenkelter und verschmierter Estrich. Von rechts und links ragen in großer Höhe einige riesige Schwenkarme in den Raum. Büromöbel hier und da in Haufen gestapelt, Zeichentische, Lampen, Drehstühle, Hocker, Schränke. Türen nach links und rechts, hinten ein Fabriktor.
MORONI, der Sohn des Propheten Mormon, steht rechts an die Wand gelehnt. MORONI ist sieben Meter groß und hat den Körper eines zehn Monate alten Babys. Er ist in das Gewand eines römischen Feldherrn gehüllt.
Das Tor im Hintergrund öffnet sich nach beiden Seiten und gibt den Blick auf einen VW Passat frei. Der Passat fährt langsam in den Raum. Er wendet umständlich, schiebt und stößt dabei mehrere Möbel um. Der Passat parkt zwischen die Möbel ein, dann ist alles wieder still. Die Fahrertür öffnet sich und eine Figur in einem weißen Laken steigt aus. Es ist DAS GESPENST DER ARBEIT. Das GESPENST lässt die Fahrertür offen stehen und klettert auf das Autodach. Dort beginnt es mit hoher, gequetschter Stimme zu singen (nach der Melodie “Die Arbeiter von Wien”).
DAS GESPENST DER ARBEIT:
Ich bin das Bauvolk der kommenden Welt
Ich habe mich an das Fließband gestellt
Ich habe Fließbänder hergestellt
Hier ist meine Gehaltsabrechnung
Wo ist mein Geld
Das GESPENST klettert vom Autodach und öffnet die Kühlerhaube des Autos. Es beginnt, an Kabeln zu ziehen, schraubt und dreht mit bloßen Händen am Motor, dabei singt es weiter.
DAS GESPENST DER ARBEIT:
Herrn der Fabriken, ihr Herren der Welt
Hier sind Mechaniker herbestellt
Hier sind Ersatzteile herbestellt
Wer hat den Schlüssel zur Kasse
Die Monteure wollen ihr Geld
Das GESPENST läuft um das Auto. Es tritt gegen die Reifen.
DAS GESPENST DER ARBEIT singt weiter:
Wie auch die Lüge uns schmähend umkreist
Defekter Scheiß
Defekter Scheiß
Wir brauchen einen Schweißer
Der uns die Scheiße schweißt
ZWEI MÄNNER, DIE VIELLEICHT KÜNSTLER SIND, betreten durch das Fabriktor den Raum. Sehr selbstverständlich und ohne das GESPENST zu beachten, gehen sie durch den Raum, heben zwei der Drehstühle auf und setzen sich. Das GESPENST öffnet den Kofferraum und zieht einen Werkzeugkoffer hervor. Es setzt seine Arbeit am Motor fort, während die Männer sprechen. Die MÄNNER schwingen arrhythmisch hin und her und rollen durch den Raum.
DER ERSTE MANN: Was für ein Raum.
DER ZWEITE MANN: Wahnsinn.
DER ERSTE MANN: Riechst du das?
Er zieht demonstrativ die Luft ein, stößt sich vom Boden ab und rollt einige Meter nach hinten. MORONI lässt sich nach vorne auf die Hände fallen und krabbelt in Richtung der Männer.
DER ZWEITE MANN:
Irre, dieser Geruch. Wo riecht es noch so. Man riecht das vielleicht noch, wenn man ein Auto hat und das warten lässt, Ölwechsel macht. Aber wer hat denn ein Auto? Und auch da - (er deutet auf einen der Schwenkarme)
DER ERSTE MANN: Man riecht das nicht mehr, weil diese Arbeitsform aus unseren Städten verschwunden ist.
MORONI gurrt. Er krabbelt abwechselnd in Richtung des einen, dann des anderen Mannes. Dann lässt er sich nach hinten fallen und setzt sich aufrecht hin. Die ZWEI MÄNNER bemerken ihn nicht.
DER ZWEITE MANN: Unterbrich mich nicht. Du verstehst das nicht. Wo kommst du denn her? Was weißt du denn von Stadt und Arbeitsform? Von deinem Dorf aus. Du kommst vom Land aus einer -
DER ERSTE MANN: Auf dem Land riecht man den Siff noch öfter als hier. Von den Traktoren, von den Landmaschinen. Da tropft ständig irgendwas raus und läuft in den Mist, der auf den betonierten Höfen rumliegt. Eigentlich muss man froh sein, dass die sogenannten kleinen Höfe aussterben. So stinkt es nicht mehr ganz so auf dem Land.
DER ZWEITE MANN: Lass mich ausreden. Aus einer Akademikerfamilie. Ich weiß, wie es da aus- sieht, wo du herkommst auf dem Land. Du kennst überhaupt nur Städte, die so aussehen wie hier, wo es überall keine Produktion mehr gibt.
Die MÄNNER legen ihre Fußsohlen aneinander und stoßen sich ab, so dass sie in entgegengesetzte Richtungen voneinander wegrollen. MORONI krabbelt auf das Dach des Passat und legt sich bäuchlings dort ab. Das GESPENST unterbricht seine Arbeit am Motor und macht scheuchende Bewegungen mit den Armen. MORONI lacht und lallt, auch er wedelt mit den Armen.
MORONI: Lalalalala lalalalala lalala (lacht)
[...]