Text der Performance “Autodenunciation”, 2019
Dozent Dr. Schreimann tritt ein. Er ist groß, glatzköpfig, schwarzer martialischer Schnurrbart, Schmiß über der Stirn, Brille. Auffallend tiefes, biederes Bierdeutsch, betont österreichischer Dialekt mit plötzlich durchschlagenden jüdischen Akzenten.
Schreimann hat sich hochgearbeitet und ist jetzt oben, endlich, und sieht voll Widerwillen und voll Fremdheit auf die anderen, die sich noch hocharbeiten müssen und die anderen, die sich bereits hochgearbeitet haben und die anderen, zu denen er sich hochgearbeitet hat. Er ist oben, aber er ist nicht da.
Ich habe dir schon einmal gesagt, lieber Ebenwald, diese ganze Affäre ist meiner Ansicht nach überhaupt nicht von irgendeinem religiösen oder konfessionellen Standpunkt, sondern vielmehr von dem des Taktes aus zu betrachten. Also, auch wenn ich Nationaljude wäre, ich würde in diesem Falle gegen Bernhardi Stellung nehmen. Aber abgesehen davon, erlaube ich mir, dich wieder einmal darauf aufmerksam zu machen, daß ich Deutscher bin, geradeso wie du. Und ich versichere dich, wenn sich einer von meiner Abstammung heutzutage als Deutscher und Christ bekennt, so gehört dazu ein größerer Mut, als wenn er das bleibt, als was er auf die Welt gekommen ist.
Löwenstein, der schlaue Hund, unterschreibt nicht seinen Vornamen, SAMUEL, um nicht als Jude aufzufallen, als wäre sein Vorname das Problem. Schreimann, der schlauere Hund, ist über dieses Versteckspiel erhaben:
Möcht wissen, warum. Mein Großvater zum Beispiel hat Samuel geheißen und hat sich immer ausgeschrieben, und ich heiße Siegfried und schreib mich auch immer aus.
Sámuel, der schlaueste Hund, hat überhaupt nichts zu verbergen. Er tarnt sich trotzdem, damit es so aussieht, als ob. Mama verbirgt nichts. Sie will erkannt werden.
Schreimann lebt im Graben zwischen Wiese und Wald. Hier hängt das feuchte Elend des Herbstes, den Schreimann sich golden gewünscht und den er grau bekommen hat. Schreimann blickt aus dem Loch ins Tal und sieht das kurzgeschnittene Gras der Schnitter und sieht die hellgrünen Sprösslinge und sieht das blaue Plastikgeflecht, das sie vor den Zähnen und Zungen der Rehe schützen soll.
Schreimann lebt an der Böschung zwischen dem kochenden, grünen Fluss und dem Gestrüpp am Feldrand. Seine Sache muss die Sache des Feldes sein, denn das Feld ist das Reich der Kultur und umgezäunt von Vernunft und Ordnung und den Gesetzen, die er zu seinen gemacht hat, und der Fluss ist voller Algen.
Du, komm mir nicht vielleicht wieder mit den anonymen Briefen. Den Schmiß da hab ich noch als Jud gekriegt.
Schnitzler sitzt und schreibt und er schreibt Schreimann und rings um ihn sind kleine Vasen auf kleinen Mahagonisäulen und er schaut auf aus seinen hohen, sauberen Fenstern in seinen Garten. Sein Vater, der Kehlkopfspezialist und Professor, hat ihm das Porzellan vermacht und hat ihm sein Geld vermacht und seine Sprache. Schreimann wird auch einen Vater gehabt haben, aber der hat ihm nichts vermacht als Akzente. Es sind miese Akzente und sie brechen seine Sprache auf, im denkbar schlechtesten Moment.
Schnitzler ist besorgt und seine Besorgnis ist die Besorgnis Bernhardis und ihre Sorge ist die Sorge zum Ende der liberalen Ära. Sie ist für Schnitzler zu Ende und für Bernhardi, weil sie Juden sind, das ist ungerecht und es ist doppelt ungerecht, weil sie mehr sind als Juden. Schreimann nicht.
Schreimann ist die schlimmste Sorte Jude, weil sein Vater kein Professor gewesen ist und er mag jetzt saubere Fenster haben und einen Titel und eine Sprache, aber sie gehören ihm nicht. Sie gehören Schnitzler. Schreimann ist ein Verräter, wie Schnitzler niemals einer wäre, weil Schreimanns Verrat immer und in jedem Fall unter Schnitzlers Würde wäre. Schreimann ist ein Verräter und nicht einmal ein besonders guter.
Schreimann dreht sich um und sieht in den dunkelbraun tropfenden Wald. Was, wenn sie jetzt kommen, hinter den Stämmen hervor, und ihn in seinem Graben entdecken? Sie würden ihre Waffen gegen ihn wenden. Keulen und Messer, mit beiden Händen umklammert, hoch über die Hüte erhoben, würden sie auf ihn zu rennen, auf das Nichts im Waldboden, auf das Loch im weißen Kittel.
Du kannst dich immer auf mich verlassen, wenn ich deiner Ansicht bin. Und da ja das glücklicherweise meistens der Fall ist –
Schreimann ist der Ewige Trottel. Seine Feinde wie seine Verbündeten bringen nichts als Verachtung für ihn auf. Unterwürfigkeit schlägt ihm im besten Fall entgegen, oder schlimmer, die gleichgültige Höflichkeit Bernhardis, des ewigen Liberalen. Er hat sich hochgearbeitet, er ist unermüdlich, und wozu? Alles um ihn könnte nun zusammenbrechen, aber wo nichts steht, kann auch nichts fallen.
Noch bricht nichts um Bernhardi zusammen, nur in ihm. Das bürgerliche Morgen, das er in seinen Träumen gesehen hat, bröckelt im kalten Wiener Sonnenaufgang. Er dachte, er sei wach.
Schreimann hat nichts gesehen und hat nichts gedacht und hat nichts, denn er ist kein Mensch, sondern eine Blamage. Er hintergeht Bernhardi und kann doch nur sich selbst verraten. Er streckt sich zum Feld und zum Garten und Schnitzler blickt mit Ekel auf ihn und wenn er endlich die Bühne betritt, ist sein Part gestrichen.